Unser Angstreflex hat sich evolutionär entwickelt, um unser Überleben im Angesicht einer äußeren Gefahr zu sichern. Die meisten kennen die typischen Reaktionsmöglichkeiten: Kampf, Flucht, Erstarrung, Unterwerfung. Hier gibt es wenig Unterschiede zum Tierreich. Zum Glück sind die Situationen, in denen es in unserer Zivilisation um das nackte Überleben geht, selten geworden, wir leben in sehr sicheren Zeiten (auch wenn wir das gegenteilige Gefühl vermittelt bekommen).
Doch es gibt einen Mechanismus, der uns Menschen wesentlich von den Tieren unterscheidet: wir können allein durch unser Vorstellungsvermögen gefährliche Situationen simulieren. Zwar nur im Geiste, doch unser „Emotionalhirn“ (das limbische System) reagiert ähnlich, wie wenn die Gefahr real wäre. Es werden Hormone ausgeschüttet, die Muskeln verspannen sich, der Kreislauf beschleunigt usw. Dieser Stress wird anschließend nicht real abgebaut, da die Situation nur eine vorgestellte ist. Dennoch befindet sich der Organismus in Alarmbereitschaft, die Angst erscheint echt. Woher sie jeweils stammt ist dabei nicht entscheidend. Sie kann durch die Nachrichten erzeugt sein oder durch das Vorstellen einer gefährlichen Entwicklung in der Zukunft: Krieg, Klimakatastrophe, persönliche Altersarmut, Arbeitslosigkeit u. v. m. Ebenso kann ein dauerhaftes Angstgefühl vorhanden sein, das sich aus einer als gefährlich eingeschätzten Zukunft speist. Dieses Thema kann hier nur angerissen werden, es wird in weiteren Beiträgen vertieft.
Während die Furcht vor einer realen Gefahr uns tatsächlich schützen kann, gibt es eine Reihe von Ängsten, die uns hemmen, das zu tun, was wir gerne tun würden. Die meisten dieser Ängste existieren nur im sozialen Umfeld. So kann Scham oder die Angst vor dem Ausgeschlossenwerden nur im sozialen Kontext erlebt werden. Hier geht es genau darum: um die Angst, die unseren besonderen Mut überhaupt erst nötig macht. Es ist die Angst vor dem Ausgeschlossenwerden, vor der Beschämung.

Gruppenausschluss
Die Wurzeln dieser Angst sind uralt, sie stammen entwicklungsgeschichtlich aus Zeiten, die viel älter sind als die Menschheit. Der Ausschluss aus der Herde, der Horde, wäre für alle Herdentiere gleichbedeutend mit dem sicheren Tod gewesen. Ohne den Schutz der Gruppe war auch für die Höhlenbewohner das Leben unendlich gefährlich. Der Ausschluss kam damals einem Todesurteil gleich.
Diese Jahrmillionen alte Verwurzelung dieser ganz speziellen Angst sorgt auch heute noch in verschiedenen Situationen dafür, dass wir den Gruppenausschluss unter allen Umständen vermeiden wollen – auch wenn dieser Ausschluss längst keine Lebensgefahr mehr darstellt. Jeder kennt solche Situationen.
In einer Besprechung möchtest du gerne etwas sagen, traust dich jedoch nicht. In einer Gruppe herrscht eine Meinung vor, der du überhaupt nicht zustimmst, dennoch schweigst du. In einem Bus wird eine Person beleidigt, doch du tust so, als würdest du es nicht bemerken. Du findest Masken im Freien komplett unsinnig, dennoch trägst du sie. Du sollst auf einer Bühne eine kurze Ansprache halten und kannst nächtelang davor kaum schlafen. Du sitzt bei einer Gehaltsverhandlung, doch schaffst du es nicht, deine Forderung auszudrücken. Und so weiter.

Ausgeschlossenwerden

All diese Situationen haben mit der Grundangst des Ausgeschlossenwerdens zu tun, auch wenn es nicht immer sofort zu erkennen ist.
Die Scham, vor der Gruppe bloßgestellt zu werden, die Angst, einen möglichen Konflikt nicht bewältigen zu können, die Furcht vor dem Ärger des Chefs, die Sorge davor, von den KollegInnen nicht mehr gemocht zu werden: sie alle haben im Wesentlichen dieselbe Wurzel: Die Angst, dass du nicht mehr Teil „deiner“ Gruppe sein könntest, wenn du aneckst.
Es gibt zum Glück ein wirksames Mittel dagegen: Konformität.
Je mehr du dich der jeweiligen Gruppe anpasst, desto sicherer ist es. Wenn du keinerlei Abweichung vom -real existierenden oder vermuteten – Gruppenkonsens zeigst, so ist die Sicherheit maximal. Du vermeidest Diskussionen, mögliche Streitereien, bleibst beliebt und anerkannt und wirst nicht beschämt.
Das sind die Vorteile der Konformität.
Schuldangst
Eine besondere Form der Angst spielte in jüngster Zeit eine große Rolle: die Angst davor, sich schuldig zu machen. Und zwar in der schlimmstmöglichen Form: schuldig zu sein am Tod eines Mitmenschen. Die Angst speist sich aus einer möglichen kausalen Beziehung der Ansteckung eines anderen Menschen mit einem potenziell gefährlichen Erreger. Dies gehört seit Generationen allerdings zum normalen Lebensrisiko, das nicht vermeidbar ist. Gerade die Zeit der „Pandemie“ hat gezeigt, dass die Übertragungswege bzw. wer sich ansteckt und wer nicht, noch immer ein absolutes Rätsel darstellen.
Von der anderen Seite her betrachtet ist es das Vorsorgeprinzip, das dazu dient, jedes mögliche Risiko auszuschließen. Die Anwendung dieses Prinzip auf das Alltagsleben machte es möglich, diese Schuldangst zu erzeugen (explizit vorgeschlagen in einem Strategiepapier des Innenministeriums, Kindern sollte Angst gemacht werden, die Mörder ihrer Großeltern zu sein). Hier haben wir es mit keiner gesellschaftlich erlernten Angst zu tun, sondern mit einer künstlich erschaffenen. Denn würde dieses Vorsorgeprinzip ständig auf alles in unserem Alltag angewendet werden, so käme das Leben augenblicklich zum Erliegen (Viren lauern überall, bakterielle Infektionen können weitergegeben werden, der Straßenverkehr ist ein potenzielles Todesrisiko u.a.).
Auch hier hilft Mut dabei, solche Angstbilder nicht anzunehmen, nicht zu verinnerlichen. Es ist z. B. der Mut, zur eigenen Einschätzung zu stehen, sich aus unabhängigen Quellen zu informieren oder sich im Gespräch offen mit einem solchen Thema auseinanderzusetzen.